Prolog



Prolog


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Konstantin dachte über Yssantis’ Worte nach und blickte durch das Fenster nach draußen. Es war längst dunkel, die Nacht war hereingebrochen. Nur der fahle Schein des Mondes drang durch die Wolkendecke. Obwohl das Mondlicht die umliegenden Straßen und Gebäude in ein kaltes, bläuliches Licht tauchte, fühlte sich Konstantin in dieser nächtlichen Atmosphäre zum ersten Mal in seinem Leben geborgen und sicher. Immerhin schützte ihn sein Heimatplanet durch seine entlegene Position, die nachts für Dunkelheit und Kälte sorgte, doch offenbar vor der sicheren Auslöschung.
„Habt Ihr Hunger, lieber Yssantis?“ Konstantin war immer um das leibliche Wohl seiner Gäste besorgt, sei es ein Soldat der New World Order oder ein alter Freund, der ihn aufsuchte. Nur die Prowler konnten ihm gern gestohlen bleiben.
„Ich möchte Eure Mara heute nicht noch weiter belästigen. Stattdessen könntet Ihr mir doch bitte von diesem Gerät in der Ecke erzählen, von so etwas habe ich schon einmal gehört.“ Yssantis deutete auf einen alten Spielautomaten aus dem späten 20. Jahrhundert. Er war in der entferntesten Ecke des Raumes aufgestellt und unterstrich dadurch das ihm anhaftende Mysterium umso mehr. An sich war der Automat sehr unscheinbar; ein schwarzer, mannshoher Kasten mit eingebautem Röhrenmonitor und wenigen Bedienelementen. Der Schriftzug „Polybius“ war oben aufgedruckt, und ebendieser zog Yssantis’ Aufmerksamkeit auf sich.
„Dieses Ding?“ Konstantin fühlte sich sichtlich unwohl, darüber zu sprechen. „Nicht lange, nachdem der Ärger anfing und ich diese Stadt übernahm, klopfte ein Abgesandter der New World Order an meine Tür. Die neutrale Stellung dieser Stadt zu behaupten war von Anfang an kein leichtes Unterfangen gewesen, aber irgendwann haben die Menschen wohl eingesehen, von welchem Nutzen sie gerade wegen ihrer Neutralität sein kann. So hatte ich hier weitestgehend meine Ruhe, abgesehen von ein paar Plünderern und neuerdings natürlich dem Angriff des Engels. Als ich ein Treffen zwischen der New World Order und den Vril arrangierte, war mir der Abgesandte eine Gefälligkeit schuldig. Nachdem wir ein paar Abende zusammen über die heutige Welt sinniert hatten, fiel ihm wohl mein Interesse an seltenen und mythischen Dingen auf. Aus dem Fundus der alten Regierung von Nordamerika organisierte er mir daraufhin dieses Arcade-Gerät. Ob die Gerüchte darüber stimmen oder nicht, ich kann es Euch nicht sagen. Nennt mich verrückt, aber ich hänge an meiner Zurechnungsfähigkeit und möchte sie nicht aufs Spiel setzen.“
Yssantis nickte, obwohl seinem Blick anzusehen war, dass er sich von der Antwort mehr erhofft hätte als das, was Konstantin ihm erzählte. Er beschloss jedoch, es dabei bewenden zu lassen. „Ich verstehe, mein Freund.“
Nachdem Mara auf ein Zeichen Konstantins erneut die Bierkrüge aufgefüllt hatte, kam Yssantis auf seinen Bericht über den Krieg der Lhon’Dar gegen die Engel zurück.
„Wie dem auch sei, die Götter lernten natürlich aus dem Aufstand der Lhon’Dar. Eine eigenständig denkende Zivilisation würde aus Sicht der Götter immer unvorhergesehene Komplikationen mit sich bringen. Um die ‚Neue Saat‘ zu kultivieren, müsste der komplette Bestand des Erntematerials ständig überwacht werden, denn schließlich sollte die jeweilige Zivilisation möglichst zahlreich werden und nicht sich oder andere durch Kriege dezimieren. Das hätte einen Rückschritt vom Automatismus bedeutet, und man wäre erneut am Scheideweg gewesen, entweder nicht genug Medizin für die gesamte Zivilisation der Götter zur Verfügung zu haben oder einen Bürgerkrieg zu riskieren. Dies zwang die Götter zum Umdenken und dazu, den Ernteprozess zu reformieren.
Bislang war die Saat nur in großen Abständen von mehreren Hunderten oder Tausenden Jahren besucht und beobachtet worden. Nachdem die Mutation Material hervorgebracht hatte, das für die Ernte geeignet war, wurde der Zeitpunkt zur Ernte aufgrund von Hochrechnungen der Populationsentwicklung mehrere Jahrtausende im Voraus festgelegt. Der Nachteil daran war, dass es keine konstante Überwachung der sich entwickelnden Zivilisationen und der Population gab.
Dieser Automatismus musste zwar abgeschafft werden, jedoch ohne den Aufwand für die Pflege der Bestände erneut anzuheben. Der Prozess musste sich nicht nur selbstständig entwickeln, sondern sich auch selbstständig überwachen. Vereinzelte Besuche der Engelsflotten zur Überprüfung der Entwicklung aller Zivilisationen würden dadurch nicht ausbleiben, sich aber verglichen mit der vorherigen Methode im Umfang auch nicht erhöhen.
Als Bestandteil dieser Reform erhielten die Engel den Auftrag, bei ihren Besuchen die verschiedenen Zivilisationen auf einem Planeten zu beobachten, und dabei das fortschrittlichste und geeignetste Volk auszusuchen. Diesem erteilten die Engel den Auftrag, den Rest der Population des Planeten zu überwachen, um sicherzustellen, dass die Ernte erfolgreich sein und diese Population den Göttern vor der Ernte nicht gefährlich werden würde.
Sobald die Population eines Planeten zahlreich genug war, entsandte das Volk dieser Wächter dann das Signal zur Ernte.
Die Verbliebenen, die nicht geerntet werden konnten, mussten ausgelöscht werden. Das Risiko, dass sich daraus ein weiteres Volk wie die Lhon’Dar entwickeln könnte, war zu hoch. Die Säuberung des Planeten vom Restmaterial der dominanten Spezies wurde ebenso zur Pflicht der Engel wie das Säen und Ernten. Aus der DNA der geernteten Spezies wurde dann ein neuer Bestand geklont und ein paar Jahrhunderte später wieder auf dem sauberen Planeten ausgesiedelt. Daraus konnte die neue Population heranwachsen, ohne zu ahnen, was sich in der Vergangenheit auf dem Planeten abgespielt hatte.“
Der Aufwand der manuellen Säuberung leuchtete Konstantin nicht gänzlich ein. „Warum machen sie sich solche Mühe? Warum wird nicht der gesamte Planet auf einmal mit Orbitalwaffen beschossen? Damit könnte man die komplette Engelsarmee obsolet machen.“
Yssantis ließ sich durch diese Frage nicht aus der Fassung bringen. „So viele Jahre bin ich bereits unter Euch, jedoch erstaunt mich die Naivität der Menschen jedes Mal von Neuem. Angriffe mit flächendeckenden Orbitalwaffen würden sich unvorhersehbar auf die bestehende Flora und Fauna eines Planeten auswirken. Eine erneute Nutzung für die Neubesiedlung wäre danach vielleicht für mehrere Millionen Jahre nicht mehr möglich. Auch soll nur die Spezies vernichtet werden, die aus der Saat entstanden war. Das Ökosystem des Planeten aber muss intakt bleiben, damit die gleiche Spezies später erneut auf dem Planeten angesiedelt werden kann. Würden sich die Lebensbedingungen zu stark verändern, müsste im schlimmsten Fall eine neue Evolution in Gang gesetzt werden, die Millionen von Jahren verschlingen würde. Der Verlust eines Planeten und dessen Ökosystems, der bereits erfolgreich im Erntemechanismus verankert war, wäre zu groß. Damit die Säuberungen so unkompliziert und schnell wie möglich ablaufen, werden frühzeitig Boten durch die Engel entsandt. Diese Boten tragen das Erscheinungsbild der Zivilisation auf dem jeweiligen Planeten und sollen diese vereinen und Kriege verhindern. Denn eine friedliebende Zivilisation ohne Waffen ist für die Wächter wesentlich einfacher zu kontrollieren und für die Engel leichter zu säubern.“
Konstantin reagierte bestürzt auf diese Schilderungen, senkte seinen Blick und murmelte: „Frieden wird also bestraft.“ Einen Moment später war seine Wissbegier aber wieder entfacht. „Wie kann ein Volk in einem frühen Entwicklungsstadium der Zivilisation überhaupt als Wächter von Nutzen sein? Wie kann es den gesamten Planeten überwachen?“
„Das ist in der Tat nicht einfach, es muss aber auch nicht jeder Winkel des Planeten überwacht werden. Verglichen mit dem Zustand vor der Erschaffung eines Wächtervolkes, als es absolut keine Kontrolle gab, reichte es schon aus, dass die Entwicklung der Zivilisationen und der Populationen grob bekannt waren. Im Endeffekt soll dabei nur verhindert werden, dass sich eine Zivilisation erneut geschlossen gegen die Götter stellt. Die Wächter erhalten die Aufgaben, die Population zu beobachten, Landeplattformen für die Besuche der Engelsschiffe herzustellen und die Welt zu erschließen.“
Yssantis blätterte erneut einige Seiten in seinem Ringbuch weiter, und Konstatin versuchte dabei neugierig einen raschen Blick auf das Geschriebene zu werfen, konnte aber nichts erkennen. Yssantis fand schließlich die Passage, die er gesucht hatte, und begann lautlos zu lesen.

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